Universität im Nationalsozialismus: NS-Opfer auf dem Seziertisch
Seit Mitte 2016 beschäftigt sich ein interdisziplinäres Forschungsprojekt mit der Rolle des damaligen Instituts für Anatomie der Universität Innsbruck während der NS-Zeit. In einer soeben erschienenen Publikation beleuchten der Historiker Herwig Czech und der Anatom Erich Brenner die Verwendung von NS-Opfern für Forschung und Lehre. Weitere Forschungsarbeiten werden folgen.
Innsbruck, 07.05.2019: Ein nationalsozialistischer Erlass aus dem Jahr 1939 sah vor, dass Anatomische Institute Anspruch auf die Leichen Hingerichteter für die Ausbildung von Medizinstudierenden und zu Forschungszwecken bekommen sollten. Das Anatomische Institut in Innsbruck erhielt ebenso wie die Einrichtungen in München, Erlangen und Würzburg die Körper von im Gefängnis Stadelheim in München Hingerichteten. Die erhöhte Anzahl von Hinrichtungen unter dem NS-Regime war eine wesentliche Quelle von Körpern für die Anatomie.
Herkunft der Opfer
An das Anatomische Institut in Innsbruck sind zwischen März 1938 und Dezember 1943 insgesamt 199 Körper von Verstorbenen zu Lehr- und Forschungszwecken überführt worden. Die Hintergründe dieser Einlieferungen sind Gegenstand aktueller Forschungsarbeiten. Der Historiker Herwig Czech von der Medizinischen Universität Wien (Organisationseinheit Ethik, Sammlungen und Geschichte der Medizin, Josephinum) und der Anatom Erich Brenner von der Sektion für Klinisch-Funktionelle Anatomie der Medizinischen Universität Innsbruck, haben nun erste Erkenntnisse veröffentlicht. Der Artikel mit dem Titel „Nazi victims on the dissection table“ („NS-Opfer auf dem Seziertisch“) ist im angesehenen Fachblatt „Annals of Anatomy“ erschienen.
„Nach unserem Wissensstand können wir festhalten, dass in den Jahren 1938 bis 1943 von den insgesamt 199 Leichen, die an das Anatomische Institut in Innsbruck überführt wurden, mindestens 128 aus nationalsozialistischen Unrechtskontexten stammen“, sagt Herwig Czech. Die Autoren führen in der Publikation die Herkunft dieser 128 Körper aus: Aus Stadelheim wurden während der NS-Zeit 59 Leichen nach Innsbruck überführt. Darüber hinaus wurden auch die Körper von 39 verstorbenen, sowjetischen Kriegsgefangen nach Innsbruck transportiert, von denen bisher 20 identifiziert werden konnten. Sieben Menschen, die auf Grund ihrer jüdischen Herkunft verfolgt worden waren, sind ebenfalls in den Registern verzeichnet. Außerdem werden zwei Personen angeführt, die von einem Innsbrucker Wehrmachts-Kriegsgericht zum Tode verurteilt worden waren. Ein weiterer Eintrag lässt sich einer von der Gestapo-hingerichteten Person zuordnen. Zudem werden 20 Körper gelistet, die der Psychiatrie in Hall zugeordnet werden können. Dabei handelt es sich nach derzeitigem Kenntnisstand allerdings nicht um Opfer der NS-Euthanasie. Auf Grund eines schweren Bombentreffers im Dezember 1943, bei dem das Institutsgebäude beschädigt wurde, konnten in der Folge keine weiteren Körper aufgenommen werden.
Ein Ziel der Forschungsarbeit ist es, biographische Daten zu sammeln. „Wir wissen beispielsweise von den sieben jüdischen Opfern, dass laut Totenschein sechs Selbstmord begangen haben. Ein jüdisches Opfer konnten wir genau zuordnen: Theresia Reich* aus Meran, die im Lager Innsbruck-Reichenau verstorben ist. Von den weiteren sechs Personen starben vier in Tirol und zwei in Vorarlberg. Da diese weder in Tirol noch in Vorarlberg gemeldet waren, vermuten wir, dass diese Personen sich auf der Flucht befunden hatten“, sagt Erich Brenner von der Sektion für Klinisch-Funktionelle Anatomie. Der Anatom leitet auch das interdisziplinäre Forschungsprojekt „Die Innsbrucker Anatomie im Dritten Reich“.
Die Verwendung der NS-Opfer
„Die Verwendung von NS-Opfern, die während des Krieges unter sehr bedenklichen Umständen an die anatomischen Institute gelangt waren, wurde nach der Befreiung häufig auch von politisch nicht dem Nationalsozialismus nahestehenden Anatomen als unproblematisch gesehen“, erklärt Herwig Czech. Der Historiker von der Medizinischen Universität Wien kann belegen, dass Leichenteile von NS-Opfern in Innsbruck noch bis ins Wintersemester 1956/57 für Anfängersezierkurse in Verwendung waren.
Sammlung: Suche nach noch lebenden Familienangehörigen
Die „Innsbrucker Anatomie“ umfasste bereits vor, während und auch nach dem Zweiten Weltkrieg zwei Institute: Zum einen das Institut für Anatomie und zum anderen das Institut für Histologie und Entwicklungsgeschichte. Im Zuge der Forschungsarbeiten konnte eine Sammlung von mehr als 200 histologischen Schnitten vom damaligen „Institut für Histologie und Entwicklungsgeschichte“ eruiert werden, welche von fünf Menschen stammen, die unter dem NS-Regime hingerichtet wurden. „Wir wissen zudem von mindestens einem weiteren Präparat, das sich in der Sammlung der Anatomie befindet und ebenfalls von einem NS-Opfer stammt“, erklärt Erich Brenner. Ein sensibler Umgang mit den Ergebnissen ist für alle Beteiligten sehr wichtig. So ist beabsichtigt, etwaige Gedenkaktivitäten in Absprache mit eventuell noch lebenden Familienangehörigen zu organisieren.
Umgang mit der Geschichte
Sowohl die Aufarbeitung und Aufklärung der Geschichte der Anatomie als auch ein würdevoller Umgang mit den Ergebnissen ist für die Direktorin der Sektion für Klinisch-Funktionelle Anatomie Innsbruck, Helga Fritsch, sehr wichtig: „Wir können das in der NS-Zeit begangene, verwerfliche Verhalten nicht mehr ungeschehen machen. Es ist mir persönlich ein Anliegen, dass wir einen Beitrag zur Aufklärung leisten und NS-Opfern ihre Geschichte zurückgeben. Darüber hinaus werden wir auch ein nachhaltiges öffentliches Signal setzen.“ Mit der jüdischen Kultusgemeinde und dem russischen Konsulat findet ein Austausch statt, um eine adäquate Gedenkmöglichkeit zu finden.
Interdisziplinäre Aufarbeitung
Um aufzuklären, ob sich weitere Körperteile in den Sammlungen des Institutes befinden, wird in einer weiteren Forschungsarbeit systematisch aufgearbeitet. Betreut wird die Arbeit von Dirk Rupnow vom Institut für Zeitgeschichte der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Der Dekan der Philosophisch-Historischen Fakultät ist ein wichtiger Kooperationspartner des Forschungsprojekts. „Das Anatomische Institut in Innsbruck hat sich kaum von anderen Instituten in der NS-Zeit unterschieden. Auch der unkritische Umgang mit der eigenen Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg ist - bedauerlicherweise - weder in Innsbruck noch darüber hinaus ungewöhnlich, wird man nüchtern konstatieren müssen, ohne damit etwas schönzureden. Die Geschichte der Anatomie ist auf eine sehr spezifische Art mit der Verfolgungspolitik des NS-Regimes verbunden. Nicht zuletzt deshalb ist eine Aufarbeitung weiterhin so wichtig."
* verschiedene Schreibweisen von Theresia Reich („Teresa“ vs. „Theresia“ vs. „Therese“); dieser Unterschied könnte schlicht auf unterschiedlichen Schreibweisen im Italienischen und im Deutschen oder aber auch nur auf einem Schreibfehler beruhen.
Wissenschaftliche Publikation: Czech, H., Brenner, E., 2019. Nazi victims on the dissection table – the Anatomical Institute in Innsbruck. Annals of Anatomy - Anatomischer Anzeiger. http://dx.doi.org/10.1016/j.aanat.2019.03.007
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Die Medizinische Universität Innsbruck mit ihren rund 2.000 MitarbeiterInnen und ca. 3.000 Studierenden ist gemeinsam mit der Universität Innsbruck die größte Bildungs- und Forschungseinrichtung in Westösterreich und versteht sich als Landesuniversität für Tirol, Vorarlberg, Südtirol und Liechtenstein. An der Medizinischen Universität Innsbruck werden folgende Studienrichtungen angeboten: Humanmedizin und Zahnmedizin als Grundlage einer akademischen medizinischen Ausbildung und das PhD-Studium (Doktorat) als postgraduale Vertiefung des wissenschaftlichen Arbeitens. An das Studium der Human- oder Zahnmedizin kann außerdem der berufsbegleitende Clinical PhD angeschlossen werden.
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Die Medizinische Universität Innsbruck ist in zahlreiche internationale Bildungs- und Forschungsprogramme sowie Netzwerke eingebunden. Schwerpunkte der Forschung liegen in den Bereichen Onkologie, Neurowissenschaften, Genetik, Epigenetik und Genomik sowie Infektiologie, Immunologie & Organ- und Gewebeersatz. Die wissenschaftliche Forschung an der Medizinischen Universität Innsbruck ist im hochkompetitiven Bereich der Forschungsförderung sowohl national auch international sehr erfolgreich.
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