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Welt-MS-Tag am 30. Mai

"MS ist kein Stigma und kann jeden betreffen"

Bei Multipler Sklerose zerstören Immunzellen die Isolationsschicht der Nervenfasern im Gehirn und Rückenmark. Zunehmende Behinderungen sind die Folge. Die Erkrankung betrifft immer mehr junge Menschen. Markus Reindl und Harald Hegen, MS-Experten an der Medizinischen Universität Innsbruck, berichten im Interview über Forschungsfortschritte wie neue Biomarker und Immuntherapien, die den Betroffenen zu besserer Lebensqualität verhelfen.

Bilder frei zum Download:


Markus Reindl leitet das Forschungslabor der Universitätsklinik für Neurologie an der Medizinischen Universität Innsbruck (r.), Bild: MUI/D. Bullock

Der Neuroimmunologe Harald Hegen forscht seit mehr als zehn Jahren an der Medizinischen Universität Innsbruck zu MS. Bild: MUI/D. Bullock

 

Innsbruck, am 24. Mai 2023:

Am 30. Mai ist Welt-MS-Tag. In Österreich sind schätzungsweise 14.000 Menschen an Multipler Sklerose erkrankt. Wie steht es in der Bevölkerung um das Bewusstsein für MS?

Markus Reindl: Generell werden Autoimmunerkrankungen sträflich vernachlässigt. Es ist unbedingt mehr Bewusstsein und mehr Geld für Forschung und Therapie notwendig. MS, Typ 1 Diabetes und auch Rheuma beginnen in jungen Jahren. Die Betroffenen verbringen ihr ganzes Leben damit. Man muss sie im Arbeitsprozess halten und ihnen eine gute Lebensqualität ermöglichen. MS ist kein Stigma, es kann jeden betreffen.

Harald Hegen: Ich denke, wir können mittlerweile ein anderes Bild der MS zeichnen. Früher hat man die Erkrankung unweigerlich mit deutlicher Gehbehinderung und Rollstuhl in Verbindung gebracht. Es hat sich aber gerade in den vergangenen zehn Jahren sehr viel getan. Durch neue Entwicklungen, wie etwa die Immuntherapien, haben PatientInnen heutzutage eine bessere Prognose. PatientInnen mit MS können ein aktives Leben, im Beruf als auch mit Familie, führen. Es gibt grundsätzlich nichts, was man mit MS nicht tun darf.

MS tritt in jungen Jahren auf. Ist man davor gefeit, wenn man die 40 überschritten hat?

Reindl: Der Erkrankungsgipfel liegt zwischen 20 und 30 Jahren, frühere oder spätere Erkrankung ist möglich, aber weniger wahrscheinlich. Allerdings ist bekannt, dass sich die Krankheitspräsentation mit dem Alter verändert. Die Mehrheit der jungen PatientInnen hat eher einen schubhaften Verlauf, der durch Phasen zunehmender Beschwerden und letztlich über die Jahre durch zunehmende Behinderung gekennzeichnet ist. Ab einem bestimmten Alter, zwischen 40 und 50, ist es eher ein schleichender Krankheitsverlauf. Dieser so genannte primär progrediente Verlauf betrifft rund 15 Prozent der MS PatientInnen.

Wie aktuell ist das Epstein-Barr-Virus (EBV) als mögliche Krankheitsursache?

Hegen: Die Ursache der MS ist bis dato nicht geklärt. Man kennt aber Risikofaktoren für die Entwicklung der Erkrankung, neben genetischen auch Umweltfaktoren, wie EBV. Vor etwa einem Jahr hat eine große US-Studie zeigen können, dass fast alle Menschen, die MS entwickeln, zuvor eine EBV-Infektion durchmachen. Wenngleich EBV auch bei ungefähr 90 Prozent der gesunden Bevölkerung vorkommt, ist eine EBV Serokonversion (erstmalige Entwicklung spezifischer Antikörper infolge der Infektion, Anm.) häufiger bei MS zu beobachten, insbesondere in den Jahren bevor die ersten Beschwerden auftreten. Diesen Zusammenhang kennt man schon länger. Er ist uns durch diese Arbeit wieder frisch ins Bewusstsein gerufen worden. Man muss aber klar betonen: Es handelt sich um eine Assoziation, die nicht eine Ursächlichkeit per se beweist, sondern einen Faktor darstellt, der mit einem häufigeren Auftreten von MS verbunden ist. So gibt es beispielsweise auch Assoziationen mit niedrigeren Vitamin D-Werten, die aber auch bei vielen anderen Erkrankungen beobachtet werden, und somit nicht spezifisch für die MS sind.   

Reindl: Zudem gibt es bei MS eine Reihe von genetischen Risikovarianten, welche für sich allein die Ursache der Erkrankung auch nicht erklären. Paradebeispiel sind eineiige Zwillinge. Wenn eines der beiden Geschwister MS bekommt, liegt das Risiko, dass der andere Zwilling ebenso erkrankt bei 30 Prozent. Wenn es eine rein genetische Erkrankung wäre, dann wären beide betroffen. Das ist nicht der Fall. Es braucht zusätzlich einen Umweltfaktor, um MS zu entwickeln. MS ist ein extrem komplexes Zusammenspiel zwischen Umweltfaktoren, Genetik und Alter.

Wie erklären Sie die Zunahme von Autoimmunerkrankungen, insbesondere der MS?

Reindl: Ein Grund ist sicher, dass wir heute verfeinerte diagnostische und klinische Kriterien haben. Dadurch diagnostizieren wir mehr, genauer und frühzeitiger. Das bedeutet auch, dass wir heute schon frühzeitig mit der Therapie beginnen können, wo damals die Entzündung unbemerkt über Jahre weitergebrannt ist.

Das klingt auch nach einer guten Nachricht. Gibt es weitere gute Botschaften?

Hegen: Die gute Nachricht ist, dass die neueren Immuntherapien deutlich wirksamer sind und damit der Krankheitsverlauf positiv beeinflusst werden kann. Somit kann das Auftreten von Schüben sowie die Entwicklung einer permanenten Behinderung vermindert werden. Eine geringe Symptomlast spiegelt sich natürlich auch in einer höheren Lebensqualität von unseren PatientInnen wider. Grundsätzlich gilt: Je früher man mit einer Therapie beginnt, desto besser kann man das Fortschreiten der Erkrankung bremsen. Seit kurzem ist zumindest für einen Teil der schon deutlich fortgeschrittenen PatientInnen ebenfalls eine wirksame Immuntherapie zugelassen.

Reindl: In den vergangenen Jahren ist es auch gelungen, andere seltene MS-ähnliche Erkrankungen, wie die Neuromyelitis optica Spektrumerkrankung und die MOG-Antikörper assoziierte Erkrankung zu definieren, die einen anderen Krankheitsverlauf haben und andere therapeutische Maßnahmen bedingen als MS. Das hilft natürlich allen drei Gruppen, weil die seltenen Erkrankungen schlechter auf die MS-Medikamente ansprechen und umgekehrt.

Inwieweit kann man Verlauf und Krankheitsaktivität einschätzen?

Hegen: Die Biomarkerforschung ist einer der Schwerpunkte in Innsbruck. Wir arbeiten daran, Biomarker zu identifizieren, einerseits um Einblicke in die Pathophysiologie der Erkrankung zu erhalten, andererseits um sie für die Diagnose als auch für die Prognose zu verwenden. Unter Einbeziehung der Klinik, der Bildgebung und von Biomarkern, die wir aus dem Nervenwasser oder dem Blut gewinnen, ist es möglich, die PatientInnen sehr gut zu charakterisieren. Es gibt drei Biomarker, die aktuell besonders im Rennen sind. Wir sind bei allen an der Forschung beteiligt, bei einem sogar federführend. Das sind die kappa-freien Leichtketten (κ-FLC), die insbesondere die entzündliche Komponente der MS abbilden. In einer aktuellen Arbeit konnten wir damit das individuelle Risiko von MS PatientInnen bereits zum Zeitpunkt der ersten Beschwerden sehr gut aufzeigen. Kürzlich konnten wir zudem zeigen, dass die Kombination mit dem Biomarker Serum Neurofilament Light die Einschätzung der Krankheitsaktivität noch weiter verbessert. κ-FLC sind sehr zuverlässig und werden jetzt in die klinische Routine eingeführt. Es sind allerdings noch ein paar Fragen offen. Deshalb ist gerade ein weiteres prospektives und von uns koordiniertes multizentrisches Projekt angelaufen.

Welche MS-Mythen kursieren?

Hegen: Ich habe den Eindruck, dass die Mythen weniger geworden sind. Früher hat es Mythen gegeben, dass Frauen mit MS keine Kinder kriegen sollen, dass PatientInnen keine Narkose erhalten dürfen oder, dass Impfungen MS auslösen. Es gibt eine sehr gute Datenlage, die zeigt, dass dies alles Mythen sind. Wie gesagt, mit MS darf man im Prinzip alle Dinge des normalen Lebens machen, wie jeder andere Mensch auch.

Reindl: Es gibt auch keine MS-Diät und Angebote, wie etwa das Coimbra-Protokoll, sind mit Vorsicht zu genießen. Da wird viel Schindluder getrieben. Die Österreichische MS Gesellschaft steht allen Betroffenen mit Rat und Selbsthilfeangeboten zur Verfügung und ist sehr engagiert.


Was spielt sich bei Multipler Sklerose im Gehirn ab? Welche MS-Studien gibt es in Innsbruck? Worauf kommt es bei der Therapiewahl an? Diese und mehr Antworten finden Sie in der Langversion des Interviews

Zu den Personen:
Harald Hegen (40) ist gebürtiger Oberösterreicher und studierte in Innsbruck Medizin. Seit über zehn Jahren forscht der Neuroimmunologe an der Univ.-Klinik für Neurologie zur chronisch entzündlichen Erkrankung Multiple Sklerose.

Markus Reindl (58) studierte in Innsbruck Biologie und leitet seit 1997 das Forschungslabor der Univ.-Klinik für Neurologie an der Medizinischen Universität Innsbruck. Als Professor für Experimentelle Neurologie forscht er vor allen an neurologischen Autoimmunerkrankungen.