COVID-19 und Triage im Falle von Ressourcen-Mangel: "Alter ist nicht das alleinige Kriterium"
ExpertInnen, die sich mit den ethischen und medizinischen Fragen am Ende des Lebens beschäftigen, wie die Innsbrucker Intensivmedizinerin Barbara Friesenecker, stehen immer wieder vor Herausforderungen. Aktuell spielt folgende Frage eine zentrale Rolle: Wie entscheiden ÄrztInnen über die Behandlung von PatientInnen, falls die Ressourcen knapp werden sollten? Medizinische Scores, ethische Grundsätze und Checklisten sollen in Ausnahmesituationen helfen, schwere Entscheidungen zu treffen.
Der gesetzliche Auftrag für ÄrztInnen lautet, die Gesundheit zu erhalten, und zum Wohle der Kranken zu agieren. Die aktuelle Covid-19Pandemie stellt die Medizin dabei vor große Herausforderungen. IntensivmedizinerInnen wie Barbara Friesenecker von der Medizin Uni Innsbruck helfen dabei, dass auch in Ausnahmesituationen das größtmögliche Wohl der PatientInnen im Fokus bleibt. Die Innsbrucker Expertin ist Leiterin der Arbeitsgruppe Ethik der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin (ARGE Ethik, ÖGARI), die erst kürzlich klinisch-ethische Handlungsempfehlungen (SOP=Standard Operating Procedure) für den Beginn, die Durchführung und Beendigung von Intensivtherapie bei der Covid-19-Pandemie herausgegeben hat. Friesenecker beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem „guten Leben am Ende des Lebens“ und dem „Sterben in Würde“. Diese Erkenntnisse sind auch in die aktuellen Vorgaben eingeflossen. Dabei geht es um weit mehr, als nur um eine Altersgrenze, sollten Betten auf Intensivstationen oder Beatmungsgeräte knapp werden.
Was bedeutet Triage eigentlich wirklich?
Barbara Friesenecker: Triagieren heißt „aussuchen“ und eigentlich triagieren wir in der Medizin regelmäßig. Wir müssen immer schauen, für wen eine Therapie wirklich Sinn macht, wer davon profitiert und wer nicht. Wenn die Ressourcen knapp werden (materiell, personell, zeitlich), dann wird dieser Entscheidungsprozess natürlich wesentlich herausfordernder. Diese Situation wird dennoch häufig verzerrt dargestellt. Nur weil jemand keine intensivmedizinische Behandlung erhält, heißt das ja nicht, dass er keine medizinische Betreuung mehr bekommt. In solchen extremen Fällen ist dies dann eben eine gute, palliativmedizinische Behandlung. Das ist unser Ansatz. Auch in einer Krisensituation sollen die fünf Grundqualitäten für ein Sterben in Würde eingehalten werden: Das bedeutet, die PatientInnen sollen ohne Stress, ohne Atemnot, ohne Angst, ohne Schmerzen und nicht alleine versterben können. In einer Pandemiesituation ist die Umsetzung natürlich herausfordernd, insbesondere, weil es im Katastrophenfall nicht immer möglich sein wird, dass Angehörige die sterbenden Menschen begleiten können. In diesem Fall würden wir uns sehr bemühen, dass zumindest das Pflegepersonal so lange wie möglich bei den sterbenden Menschen bleiben kann. Auf Grund der Disziplin der österreichischen Bevölkerung ist es durch die strikte Einhaltung der Isolierungs-, und Hygienemaßnahmen bisher gelungen, diese Ausnahmesituation bisher zu vermeiden.
Wie kann Triage in einer extremen Stresssituation funktionieren?
Wir haben in Österreich deutlich mehr Intensiv-Kapazitäten in den Krankenhäusern als beispielsweise Norditalien, Frankreich oder die USA, auch was die personellen Kapazitäten betrifft, also zum Beispiel das sehr gut ausgebildete Pflegepersonal. Aber auch in Österreich könnten wir an eine Belastungsgrenze kommen, wenn es zu einem zu raschen Anstieg von Neuerkrankungen kommen sollte. Deshalb ist es wichtig, dass wir rechtzeitig bedenken, wie wir etwa bei einem Massenanfall von schwerst erkrankten Menschen und gleichzeitig knapper werdenden Ressourcen vorgehen. Die ARGE Ethik der ÖGARI hat für diesen Fall eine Handlungsanweisung (SOP) samt Checkliste entwickelt, die alle Patientinnen und Patienten ab der Aufnahme ins Krankenhaus begleiten sollte. Das hilft uns Ärzten und Ärztinnen, auch im maximalen Stress, jede einzelne Patientin, jeden einzelnen Patienten noch individuell zu beurteilen und das auch gleichzeitig zu dokumentieren.
Warum sollte Alter nicht alleiniges Triage Kriterium sein?
Es wird in den Medien immer wieder berichtet, dass bei maximaler Überlastung Alter als alleiniges Triage-Kriterium unter katastrophenmedizinischen Bedingungen verwendet wird. Medizinische Entscheidungen alleine auf Grund des Alters zu treffen, verstößt gegen das Gleichheitsprinzip und das in der europäischen Menschenrechtskonvention festgelegte Diskriminierungsverbot. Dies ist daher unter allen Umständen zu vermeiden. Die von der ARGE Ethik der ÖGARI entwickelte Triage-SOP schlägt daher neben der Erfassung von Begleiterkrankungen (schwere Herzkreislauf-, Lungen-, Nieren-, Leber-, neurologische Erkrankungen u.v.m.) Scores vor, die die Gebrechlichkeit (ADL/Frailty Score) und die Schwere der Erkrankung bei Intensivpflichtigkeit (SOFA Score) erfassen, sowie bei notwendiger Operation die Schwere des geplanten chirurgischen Eingriffes mit den Comorbiditäten und der Mortalität korreliert (POS-POM-Score). Diese Scores finden auch unter „normalen Umständen“ Anwendung, wenn es darum geht herauszufinden, ob eine technisch machbare Therapie einer Patientin bzw. einem Patienten wirklich noch Nutzen bringt oder lediglich Leiden verlängert und Sterben hinauszögert. Sie können auch in einer Triage-Situation helfen, besser abzuschätzen, welche der anfallenden Patienten/Patientinnen die bessere Überlebenswahrscheinlichkeit haben und daher intensivmedizinisch behandelt werden sollten und wer auf die Normalstation transferiert wird und dort unter palliativmedizinischer Begleitung in Würde sterben kann (ohne Angst, Stress, Schmerzen, Atemnot und nicht alleine). Die Checkliste, die den Patienten/die Patientin ab der Aufnahme ins Krankenhaus begleitet, ist gleichzeitig Handlungsanweisung und Dokumentation des individuellen Entscheidungsprozesses - selbst bei einem Massenanfall von schwerst Erkrankten.
Die Intensivmedizinerin Barbara Friesenecker. Foto: MUI.
Wie werden die Scores verwendet und welche sollten zur Anwendung kommen?
Die verwendeten Scores sind alle validiert, und dienen der besseren Abschätzung der Prognose und des Mortalitätsrisikos. Die Scores werden auf der Checkliste dokumentiert, die jede Patientin bzw. jeden Patient auf ihrem/ seinem Weg durch das Krankenhaus begleitet. Zu den vier empfohlenen Scores gehören der ADL-Score (Activity of Daily Life; Pflege) und die Clinical Frailty Scale (CSF; Dalhousie; frailty=Gebrechlichkeit), die man auch „unter normalen Umständen“ zur Abschätzung des Rehabilitationspotentials bzw. des Risikos der Entwicklung einer „Chronisch Kritischen Erkrankung“ nach einem längeren Intensivaufenthalt verwendet. Bei chirurgischen Patientinnen und Patienten sollte zusätzlich der POS-POM-Score (Präoperativer Score zur Vorhersage der postoperativen Mortalität) und vor Aufnahme auf die Intensivstation der SOFA-Score zur Beurteilung der Überlebenschance/Mortalitätswahrscheinlichkeit erhoben werden.
Auf welcher Basis wurden die jetzige Triage-SOP entwickelt?
Wir in der ARGE ETHIK der ÖGARI beschäftigen uns sehr intensiv mit dem Thema des „guten Lebens am Ende des Lebens“ und des „Sterbens in Würde“. Wenn bei einem schwerst kranken Menschen eine Therapie zwar technisch machbar ist, aber statt Nutzen zu bringen nur mehr Leiden verlängern und Sterben hinauszögern würde, muss das Therapieziel von Heilung in Richtung „Comfort Terminal Care“ (CTC) geändert werden, wo nur mehr Wohltun und beste Symptomkontrolle im Zentrum ärztlichen und pflegerischen Bemühens stehen.
Die Dosierung der Opiate und Benzodiazepine, die die wesentlichen medikamentösen Bestandteile der CTC sind, dürfen schrittweise solange gesteigert werden, bis ausreichende Symptomkontrolle (keine Angst, Stress, Schmerzen, Atemnot) erreicht ist, auch wenn durch die Nebenwirkungen dieser Therapie der Tod früher eintreten sollte. Diese Überlegungen sowie Erfahrungen aus der Anwendung der genannten Scores, sind als ethische Basis auch in die Covid-19-Triage-SOP/Checkliste eingegangen. Die rechtzeitig vor dem, hoffentlich nicht stattfindenden, großen Ansturm schwerst Erkrankter fertig gestellte Triage-SOP/Checkliste soll uns Ärzte/Ärztinnen in dieser außergewöhnlichen Situation Entscheidungssicherheit geben und Angst vor der drohenden Situation der Überlastung nehmen. Patienten/Patientinnen haben die Gewissheit, dass in Österreich - solange irgend möglich - medizinische Entscheidungen auch im Rahmen einer Triage-Situation bei zunehmender Ressourcenknappheit individuell auf Basis von validierten Scores und nicht alleine auf Grund des Alters getroffen werden.
(B. Hoffmann-Ammann, 07.04.2020)
Weitere Informationen:
Österreichische Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin
Univ-Klinik für Allgemeine und Chirurgische Intensivmedizin