Genetik: "Dark regions" und "camouflaged genes" sind immer gut für Überraschungen
Trotz der großen Fortschritte in den Technologien zur DNA Sequenzierung, umfasst das menschliche Genom noch immer hunderte Regionen, zu denen man mit herkömmlichen Technologien keinen Zugang hat. Sogenannte „dark“ bzw. „camouflaged regions“ sind in beinahe einem Viertel aller Gene zu finden. ForscherInnen um Florian Kronenberg, Direktor des Instituts für Genetische Epidemiologie, gelang es, eine dieser Regionen in einem Gen zu „enttarnen“, das sie schon länger im Visier haben.
Rund 500 Gene sind vollständig unzugänglich und ca. 2000 Gene sind zumindest teilweise unzugänglich mit konventionellen Technologien. „Eine der am längsten bekannten dark regions ist der sogenannte KIV-2 Repeat im LPA Gen“, sagt Florian Kronenberg , der sich mit seinem Team seit vielen Jahren mit dem LPA-Gen beschäftigt. Der KIV-2 Repeat bestimmt große Teile der Lipoprotein(a) [Lp(a)] Konzentrationen im Blut. Die Lipoprotein(a) Spiegel sind einer der am stärksten genetisch determinierten Biomarker und stellen einen der wichtigsten kardiovaskulären Risikofaktoren in der Bevölkerung dar. Circa ein Fünftel der Bevölkerung weist genetisch bedingt erhöhte Lp(a) Spiegel auf. „Das Spannende dabei ist, dass Lp(a) Werte zwischen Personen trotz gleicher Repeatanzahl um mehr als das 200-fache schwanken können. Wir wissen, dass dies größtenteils genetisch durch das LPA Gen bedingt ist, kennen aber die genauen Ursachen dafür nicht“, erklärt Stefan Coassin, Leiter der Arbeitsgruppe für komplexe Genomregionen am Institut für Genetische Epidemiologie.
BU: v.l.: Stefan Coassin, Claudia Lamina, Silvia Di Maio, Rebecca Grüneis, Gertraud Streiter und Florian Kronenberg.
So nah und doch so fern
Da die schwer untersuchbare KIV-2 Region bis zu 70% des LPA Gens umfasst, ist ein Großteil der Variabilität im LPA Gen noch unbekannt. Die KIV-2 Region ist also ein naheliegendes, aber auch schwieriges Ziel, um nach den genetischen Ursachen für diese enorme Schwankungsbreite zu suchen, so Coassin. Es konnten in einer früheren Arbeit zwar über 500 genetische Polymorphismen (SNPs) in dieser Region gefunden werden (Coassin, Schönherr et al, JLR 60, 2019), doch das Bestimmen derer Effekte ist schwierig, da es kaum Technologien gibt, die KIV‑2 Varianten im Hochdurchsatz in großen Studien bestimmen können. „Große Studien mit zehntausenden Probandinnen und Probanden sind jedoch Voraussetzung, um den Effekt einer genetischen Variante valide bestimmen zu können“, führt Stefan Coassin weiter aus.
„Diese Lücke wollten wir also schließen“ erinnert sich Silvia di Maio, die Erstautorin der soeben in Genome Medicine erschienenen Arbeit, an den Beginn ihrer Diplomarbeit. In mühsamer Kleinarbeit testete das Team Dutzende verschiedene Assaydesigns durch und entwickelte schließlich eine allel-spezifische realtime PCR Methode, die dieselbe Sensitivität wie kommerzielle Assays mit weitaus komplexerer Chemie zu einem Bruchteil der Kosten erreicht. Damit konnte erstmals eine Nonsense KIV-2 Mutation (KIV-2 R21X) im Hochdurchsatz und bis hin zur Auswertung vollständig automatisiert in fast 11.000 Individuen bestimmt werden. „Im Lehrbuch klingt eine allel-spezifische PCR einfach, dessen Umsetzung kann aber im Detail sehr knifflig sein – vor allem bei einem so komplexen Ziel.“, erklärt Stefan Coassin.
Doppelte Überraschung
Das Team konnte zeigen, dass die Variante tatsächlich zu einer Senkung der Lp(a) Spiegel führt. Die Überraschung kam jedoch zum Schluss. „Als wir nach anderen SNPs suchten, die gemeinsam mit dieser Mutation vererbt werden, war der beste Treffer eine viele Zehntausend Basenpaare entfernte zweite Nonsense-Variante. Dass diese beiden Mutationen trotz ihrer Entfernung tatsächlich auch immer am selben DNA Strang (also auf derselben Genkopie) liegen und daher stets gemeinsam vererbt werden, konnte Rebecca Grüneis, PhD Studentin in derselben Arbeitsgruppe (FWF Projekt P31458) anschließend in umfangreichen und technisch herausfordernden Experimenten nachweisen. Zudem konnte sie auch zeigen, dass beide Varianten generell auf Genkopien liegen, die auch unabhängig von den beiden Varianten bereits eine relativ geringe Expression aufweisen und somit erklären wieso die Lp(a) Senkung weniger stark ausfällt als bei anderen LPA Mutationen. „Zusammenfassend bedeutet dies, dass die zwei häufigsten Nonsense-Varianten im LPA in der Bevölkerung tatsächlich gemeinsam vererbt werden. R21X tritt nie unabhängig auf und hat somit auch keinen unabhängigen Effekt“, fassen Silvia di Maio, Rebecca Grüneis und Stefan Coassin zusammen. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass komplexe, nicht erfasste Vererbungsmuster den Effekt von SNPs verschleiern können. Selbst bei Nonsense-Mutationen darf man nicht zwingend von einem unabhängigen Effekt ausgehen. Dies ist umso mehr in noch nicht charakterisierten Regionen des Genoms der Fall, zu denen es noch keine Referenzdatensätze gibt. Dank der aufkommenden neuen Technologien wie Nanopore sequencing können wir uns diesen Regionen nun Schritt für Schritt nähern.“ Dies ist tatsächlich ein großes neues Feld, das sich in der Genetik gerade auftut und an dem weltweit immer mehr Gruppen arbeiten. „Weitere Überraschungen sind vorprogrammiert“, verspricht Stefan Coassin.
(23.11.2020, Text: S. Coassin und D. Heidegger, Fotos: H. Weissensteiner (Gruppenfoto) und F. Kronenberg)
Links:
Investigation of a nonsense mutation located in the complex KIV-2 copy number variation region of apolipoprotein(a) in 10,910 individuals. Maio S Di, Grüneis R, Streiter G, Lamina C, Maglione M, Schoenherr S, Öfner D, Thorand B, Peters A, Eckardt K-U, Köttgen A, Kronenberg F, Coassin S. Genome Med 2020;12:74.
A comprehensive map of single-base polymorphisms in the hypervariable LPA kringle IV type 2 copy number variation region. Coassin S*, Schönherr S*, Weissensteiner H, Erhart G, Forer L, Losso JL, Lamina C, Haun M, Utermann G, Paulweber B, Specht G, Kronenberg F. * shared contribution. J Lipid Res 2019;60:186–199.
A novel but frequent variant in LPA KIV-2 is associated with a pronounced Lp(a) and cardiovascular risk reduction. Coassin S, Erhart G, Weissensteiner H, Eca Guimaraes de AM, Lamina C, Schönherr S, Forer L, Haun M, Losso JL, Köttgen A, Schmidt K, Utermann G, Peters A, Gieger C, Strauch K, Finkenstedt A, Bale R, Zoller H, Paulweber B, Eckardt KU, Hüttenhofer A, Huber LA, Kronenberg F. Eur. Heart J. 38:1823-1831, 2017.
Weitere Informationen:
Sektion für Genetische Epidemiologie
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