Mehr Achtsamkeit und Feingefühl für Kinder in der Krise
„Herausforderung Kinder- und Jugendpsychiatrie: Neue Behandlungsansätze in Zeiten der Krise“ lautet das Motto des 9. Kinder- und Jugendpsychiatrie-Kongresses von 27. bis 28. Jänner 2023 in Innsbruck. Nach einem Gastvortrag der ehemaligen Richterin Irmgard Griss über Persönlichkeitsrechte von Kindern wird auch der Abschlussbericht der Tiroler COVID-19 Kinderstudie vorgestellt. In der Untersuchung wurden neben Angst- und Traumasymptomen auch Hinweise auf posttraumatisches Wachstum festgestellt.
Bereits wenige Monate nach Beginn der weltweiten Corona-Pandemie im März 2020 stand das psychische Befinden von Kindern im Alter zwischen drei und zwölf Jahren in Tirol und Südtirol im Fokus einer wissenschaftlichen Untersuchung unter der Leitung von Kathrin Sevecke, Direktorin der Innsbrucker Universitätsklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im Kindes- und Jugendalter und Primaria der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am LKH Hall. Mehr als zwei Jahre und vier Online-Befragungen später liegt nun der Abschlussbericht aus insgesamt 4.480 ausgefüllten Fragebögen vor, der im Rahmen des Kinder- und Jugendpsychiatriekongresses in Innsbruck präsentiert wird. „Es gibt neue und innovative Therapie- und Präventionsmaßnahmen, um negativen als auch positiven Entwicklungen zu begegnen. Wichtig sind Achtsamkeit und Feingefühl“, sagt Kinderpsychiaterin und Studienleiterin Kathrin Sevecke.
COVID-19 Kinderstudie: Die Krise als Chance?
Mit ihrem Team hat Kathrin Sevecke anhand von Online-Fragebögen, die von Kindern selbst (ab dem 8. Lebensjahr) sowie auch von Eltern und ElementarpädagogInnen (für Kinder von 3 bis 12) in Tirol und Südtirol ausgefüllt wurden, eindeutige Erkenntnisse darüber gewonnen, wie Kinder die COVID-19 Pandemie und die damit verbundenen Einschränkungen erlebt und bewältigt haben. „Wir konnten eine Hochrisikogruppe von Kindern mit klinisch relevanten Traumasymptomen und COVID-19 bezogenen Ängsten identifizieren, die einer besonderen Unterstützung bedürfen. Dazu kommt, dass sich die Ergebnisse zur psychischen Gesundheit sowohl von Vorschul- als auch von Schulkindern im Untersuchungszeitraum deutlich verschlechtert haben. Die gute Nachricht ist, dass wir auch positive Veränderungen unter den Kindern festgestellt haben“, berichtet Sevecke. Als positive Veränderung wurde etwa ein gestärkter Zusammenhalt in der Familie, der Erwerb von neuen Fähigkeiten oder von neuer Selbständigkeit erlebt. Posttraumatisches Wachstum nennt sich dieses Phänomen, das traumatische Erfahrungen nicht nur als Defizit, sondern als Ressource von persönlichen Entwicklungsprozessen beschreibt. „Eine gezielte Unterstützung traumatisch gefährdeter Kinder kann die längerfristige Entwicklung von psychischen Problemen verhindern und die psychosoziale Widerstandsfähigkeit einer Gesellschaft stärken. Die nachhaltige Förderung von posttraumatischem Wachstum bei Kindern kann zur psychischen Gesundheit beitragen, dahingehende Ressourcen müssen unbedingt genutzt werden“, so Sevecke.
Feinfühlige Eltern – starkes Kind
Die Belastung der Kinder und Jugendlichen in der Pandemiezeit hat auch die Ressourcen von therapeutischen und stationären Einrichtungen an ihre Grenzen gebracht. „Es gibt überzeugende therapeutische und vorbeugende Ansätze, die die Sensibilität für die Bedürfnisse von Kindern stärken und Belastungsstörungen frühzeitig verhindern können, sodass eine oft als stigmatisierend erlebte Psychotherapie gar nicht erst nötig wird“, weiß Ann-Christin Jahnke-Majorkovits, die sich als klinische Psychologin an der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Hall vor allem mit Bindungsforschung und der Interaktion zwischen Eltern und Kind beschäftigt. Die Eltern-Kind-Beziehung ist oft Ursache für die Störungsanfälligkeit von Kindern. „Wir sind in Österreich die ersten, die eine Ausbildung in frühem Hometreatment* in Form einer bindungsbezogenen Behandlung von ein- bis sechsjährigen Kindern und ihren Eltern auf der Basis von Videos anbieten“, berichtet Jahnke-Majorkovits.
Das vor allem bei Kleinkindern hochwirksame und an der Universität Leiden entwickelte Konzept der videobasierten Intervention VIPP-SD (Video-feedback intervention to promote positive parenting and sensitive discipline) zielt darauf ab, Eltern frühzeitig in ihrer Feinfühligkeit zu unterstützen, um die Entwicklung von Selbstvertrauen und Sicherheit beim Kind zu fördern. Dabei werden im Zeitraum von sechs Monaten alltägliche Interaktionen zwischen Mutter oder Vater und Kind – wie spielen, essen oder aufräumen – gefilmt und bei Hausbesuchen im Abstand von zwei bis drei Wochen durch geschultes Personal gemeinsam analysiert. Jahnke-Majorkovits leitet seit dem Vorjahr das erste deutschsprachige und vom Tiroler Gesundheitsfonds geförderte Training zur Anwendung der Methode mit MitarbeiterInnen der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, dem SOS-Kinderdorf Imst und dem Krankenhaus Zams. „Um die Implementierung der VIPP-Methode in Tirol voranzutreiben, wollen wir ein Ausbildungszentrum werden. Eine gesicherte Finanzierung und die Aufnahme von niederschwelligen Hometreatment-Angeboten in den Leistungskatalog der Gesundheitskasse wären wünschenswert“, betont Kathrin Sevecke. Die VIPP-Methode ist darüber hinaus vor allem für den Bereich der Kinder- und Jugendhilfe im Rahmen von ambulanten und aufsuchenden Hilfen sinnvoll und interessant.
*) Hometreatment stellt in vielen Ländern eine kosteneffektive, stationsersetzende Alternative zur Behandlung psychisch erkrankter Kinder und Jugendlicher mit stationärer Aufnahmeindikation dar. Unter dem Begriff werden unterschiedlichste Modelle von aufsuchender Behandlung verstanden.
(24.01.2023, Text: D. Heidegger)
Weiterführender Link:
VIPP-SD | Videobasierte Intervention (mit Link zur neuen Broschüre)