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Kaspar Hauser war zu 99,9994 Prozent kein Prinz

Neue DNA Analysen lösen Kontroverse über Herkunft – Mit neuen und hochsensitiven DNA-Analysemethoden bringen ForscherInnen unter federführender Beteiligung des Instituts für Gerichtliche Medizin Innsbruck nun Licht in die bislang strittige Diskussion um die Herkunft von Kaspar Hauser. Eine mütterliche Verwandtschaft zum Haus Baden und damit die weit verbreitete Prinzentheorie kann so mit nahezu 100-prozentiger Sicherheit ausgeschlossen werden.

Eine Kurzfassung dieses Textes finden Sie hier

Die Identität und die Herkunft Kaspar Hausers sind seit fast 200 Jahren Gegenstand von Forschung und kontroverser Diskussion. Neben der Meinung, er sei lediglich ein mehr oder weniger pathologischer Lügner und Betrüger gewesen, ist die langlebigste Theorie diejenige, er wäre der am 29. September 1812 geborene badische Erbprinz, der (offiziell) im Alter von nur 18 Tagen und noch vor Namensgebung starb. Dieser Prinz — so die gängige Theorie — sei in Wahrheit gegen ein sterbendes Arbeiterkind ausgetauscht und beiseitegeschafft worden, um einer Nebenlinie den Weg zum Thron zu ebnen. Im weiteren Verlauf sei der Prinz einer langjährigen Isolationshaft unterworfen worden, bis er schließlich 1828 in Nürnberg mit dem Namen Kaspar Hauser und auf dem Entwicklungsstand eines Kleinkindes freigesetzt wurde. Seine Defizite konnte er mit Hilfe seiner Betreuer im Lauf der Zeit ausgleichen, jedoch starb er nur fünfeinhalb Jahre nach seinem geheimnisvollen Auftauchen durch einen Mordanschlag oder durch eine selbst zugefügte Verletzung.

In den vergangenen drei Jahrzehnten wurden verschiedene genetische Analysen durchgeführt, um die postulierte adlige Herkunft Kaspar Hausers zu klären. Die früheren Untersuchungen von 1996 (Blutspur, initiiert von DER SPIEGEL) und von 2001/02 (v. a. Haare, unter Beteiligung des ZDF) erbrachten widersprüchliche Ergebnisse. Es blieben u.a. Zweifel an der Authentizität des 1996 untersuchten Blutes bestehen.

In einer aktuellen Publikation in der Fachzeitschrift iScience werden nun neue DNA-Analysen vorgestellt, die die Kontroverse auflösen. In diesen Analysen – 2019 unter der Federführung von Walther Parson, Experte für forensische Genomik am Institut für Gerichtliche Medizin in Innsbruck und 2020/21 in Potsdam durchgeführt – wurden neue und erheblich empfindlichere Methoden eingesetzt, und sie bestätigen die Ergebnisse von 1996. Durch die Einbeziehung unterschiedlicher Proben, die identische Ergebnisse erbrachten, konnte — im Unterschied zu 1996 — die Authentizität der untersuchten Proben und ihre Zugehörigkeit zu Kaspar Hauser nachgewiesen werden, mit einem beeindruckenden Sicherheitslevel von 99,9994 Prozent. Die nunmehr gesicherte mitochondriale DNA-Sequenz von Kaspar Hauser (Mitotyp W) weicht deutlich von der „badischen" Abstammungslinie ab (Mitotyp H1bs), was eine mütterliche Verwandtschaft zum Haus Baden und damit die weit verbreitete Prinzentheorie ausschließt. Die Autoren betonen allerdings, dass dieses Ergebnis nicht als ein Beleg für die konkurrierende Betrügertheorie missverstanden werden sollte, denn auch wenn Kaspar Hauser kein badischer Prinz war, könnte er dennoch ein Opfer verschiedener Verbrechen gewesen sein.

Kaspar Hausers „öffentliches" Leben

Am 26. Mai 1828 tauchte in Nürnberg quasi aus dem Nichts ein Jugendlicher auf, der auf etwa 16 Jahre geschätzt wurde und nur schlecht gehen und kaum sprechen konnte. Nach seinen eigenen späteren Angaben hatte er bis kurz vor seinem Auftauchen immer in einem finsteren Kerker gesessen, ohne je einen anderen Menschen gesehen zu haben. Seine einzigen Gefährten seien zwei hölzerne Pferde und ein hölzerner Hund gewesen, seine Nahrung Wasser und Brot, die ihm offenbar während des Schlafes in die Zelle gestellt wurden. Einige Tage vor seiner Freilassung sei erstmals ein Mann erschienen, der ihm notdürftig beibrachte zu gehen, einige Sätze nachzuplappern (z. B. „I möcht a söchäna [solcher] Reiter wären, wie mei Vater gwän [gewesen] is“) und „Kaspar Hauser“ zu schreiben, ohne jedoch die Bedeutung des Gesagten oder Geschriebenen zu verstehen. Schließlich nahm ihn der Unbekannte mit auf einen Marsch nach Nürnberg, wo er ihn dann zurückließ.

In der Folgezeit nahmen sich verschiedene angesehene Persönlichkeiten seiner an. Dazu zählten Jakob Friedrich Binder, Bürgermeister von Nürnberg, Gottlieb Freiherr von Tucher, Jurist am Nürnberger Stadtgericht, Anselm Ritter von Feuerbach, Präsident des Appellationsgerichts in Ansbach, und insbesondere Professor Georg Friedrich Daumer, Gymnasiallehrer, Dichter und Philosoph. Alle diese Personen und einige andere schrieben ausführliche Berichte über seinen anfänglichen Zustand und seine Entwicklung. Bei seinem Auftauchen befand er sich bei guter körperlicher Gesundheit, und seine motorischen Fähigkeiten verbesserten sich bald, obwohl er noch lange relativ schwach blieb. Auch seine sprachlichen Fähigkeiten entwickelten sich schnell, aber er sprach noch geraume Zeit in einer kindlichen Art und Weise. Seine Betreuer betrachteten ihn nicht als körperlich oder geistig behindert, sondern als über eine sehr lange Zeit vollständig von jeglicher Unterweisung und Bildung entfernt.

Es wurde geschätzt, dass die Einkerkerung im Alter von drei bis vier Jahren erfolgt war. KritikerInnen wandten ein, dass kein Kind eine solche Behandlung ohne körperliche Schäden überleben würde, wenn überhaupt. Die Fragen, die seine Kerkererzählung aufwirft, sind für die GegnerInnen Kaspar Hausers ein Hauptargument für ihren Verdacht des Betrugs. Nichtsdestotrotz wurde er zu einer Berühmtheit, zu einem Gegenstand der Neugierde der Biedermeier-Gesellschaft, zu einem Thema in der Presse und zu einer Art Attraktion für die BesucherInnen Nürnbergs. Darüber hinaus nährten seine unbekannte Herkunft und seine undurchsichtige Vergangenheit Spekulationen über eine mögliche adlige Abstammung.

Anderthalb Jahre nach Kaspar Hausers Auftauchen ereignete sich ein dramatischer Vorfall, der von seinen AnhängerInnen und GegnerInnen wiederum unterschiedlich bewertet wird:

Am Nachmittag des 17. Oktobers 1829 fand man ihn in einer Blutlache im Keller des Hauses von Professor Daumer liegen. Seine Stirn wies eine knapp sechs Zentimeter lange Wunde auf, die ihm offenbar mit einem scharfen Gegenstand zugefügt worden war — ein Mordversuch, sagen seine AnhängerInnen, eine selbst zugefügte Verletzung, um die schwindende öffentliche Aufmerksamkeit wieder zu steigern, sagen seine GegnerInnen. Kaspar Hauser erholte sich innerhalb weniger Wochen, doch sein Leben änderte sich erheblich, weil der bayerische König Ludwig I. (1786-1868) anordnete, dass er von nun an Tag und Nacht von zwei Polizisten zu bewachen war. Manche Autoren betrachten diese Maßnahme als Beweis dafür, dass Kaspar Hauser nicht lediglich ein verwahrloster Jugendlicher, sondern eine Person von politischer Bedeutung war.

Im Dezember 1831 zog Kaspar Hauser in die nahe gelegene Stadt Ansbach um, wo er im Haus eines strengen und ihm nicht gewogenen Lehrers wohnte. Am 14. Dezember 1833 kam er mit einer Stichwunde in der Brust nach Hause, an der er drei Tage später starb — Mord, sagen seine AnhängerInnen, neuerliche Selbstverwundung mit versehentlicher Todesfolge, sagen seine GegnerInnen. Die Argumente für und wider diese beiden Auffassungen füllen viele Kapitel in der einschlägigen Literatur.

Die Prinzentheorie

Am 29. September 1812 brachte Stéphanie (geborene) de Beauharnais (1789-1860), Adoptivtochter des französischen Kaisers Napoléon Bonaparte (1769-1821) und Ehefrau des regierenden Großherzogs Carl von Baden (1786-1818), in Karlsruhe einen offenbar gesunden Jungen zur Welt. Als erster Sohn des hohen Paares hätte er der nächste Großherzog von Baden werden sollen. Er starb jedoch (offiziell) im Alter von nur 18 Tagen, noch bevor er einen Namen erhalten hatte.

Die populärste Version der Prinzentheorie besagt nun, dass die zweite und nicht ebenbürtige Ehefrau des vorangegangenen Großherzogs Carl Friedrich (1728-1811), Luise Caroline Gräfin von Hochberg (1768-1820), den zwei Wochen alten Prinzen durch den todkranken Sohn eines ihrer Angestellten ersetzt habe. Das untergeschobene Baby starb und wurde als Prinz begraben, während der echte Prinz im Verborgenen weiterlebte und später zu Kaspar Hauser wurde. Stéphanie und Carl hatten drei Töchter, aber keine überlebenden männlichen Nachkommen, weshalb einer der Söhne der Gräfin Hochberg, Leopold von Baden (1790-1852), im Jahr 1830 tatsächlich den badischen Thron bestieg. Ein häufig vorgebrachtes Gegenargument zur Prinzentheorie ist, dass es schlichtweg unmöglich gewesen wäre, den Prinzen unbemerkt aus dem väterlichen Schloss zu entführen und durch ein anderes Kind zu ersetzen.

Die DNA-Analysen

Alle bisherigen DNA-Analysen zum Fall „Kaspar Hauser“ waren auf die mitochondriale DNA (mtDNA) fokussiert, die so genannt wird, weil sie sich in den Mitochondrien befindet. Hierbei handelt es sich um winzige Strukturen (Organellen) innerhalb von Zellen, die auch als „Kraftwerke der Zelle“ bezeichnet werden, weil sie eine entscheidende Rolle bei der Energiegewinnung durch Oxidation spielen.

Im aktuellen Zusammenhang sind vor allem zwei Eigenschaften der mitochondrialen DNA relevant, durch die sie sich von der im Zellkern lokalisierten Kern-DNA unterscheidet: Erstens ist die mitochondriale DNA pro Zelle in einer Vielzahl von Kopien vorhanden (bis zu mehreren Hundert), während die Kern-DNA in einer menschlichen Zelle typischerweise nur in zwei Exemplaren vorhanden ist. Zweitens werden die Mitochondrien und damit auch die mtDNA ausschließlich von der Mutter auf ihre Kinder vererbt, während bei der Kern-DNA (abgesehen von X- und Y-Chromosom) immer eine Mischung von mütterlichen und väterlichen Anteilen vorliegt.

Beide angeführten Eigenschaften der mitochondrialen DNA können bei einer historischen Fragestellung von großem Vorteil sein: Erstens ist der Nachweis einer konkreten DNA-Sequenz gerade in alten Proben technisch einfacher, wenn sie in einer höheren Anzahl von Kopien vorliegt wie es bei der mtDNA der Fall ist. Zweitens ermöglicht es die rein mütterliche Vererbung der Mitochondrien, die mtDNA-Sequenz einer lang verstorbenen Person prinzipiell auch ohne historisches Probenmaterial zu ermitteln, indem man die mtDNA-Sequenz von lebenden Personen bestimmt, die in mütterlicher Linie mit der fraglichen verstorbenen Person verwandt sind.

Die erste DNA-Analyse zur Überprüfung der Prinzentheorie wurde im Jahr 1996 von DER SPIEGEL in die Wege geleitet. WissenschafterInnen des Instituts für Rechtsmedizin der Universität München und des Forensic Science Service in Birmingham untersuchten jeweils ein blutgetränktes Stück Stoff (ca. 10 cm2), das aus der Unterhose geschnitten worden war, die Kaspar Hauser bei dem Mordanschlag getragen haben soll und die heute im Kaspar-Hauser-Museum in Ansbach aufbewahrt und ausgestellt wird. Die beiden Institute kamen in ihren jeweiligen Proben auf dieselbe mtDNA-Sequenz, die sich deutlich von derjenigen unterschied, die bei zwei lebenden Nachkommen von Stéphanie de Beauharnais gefunden wurde (sieben Abweichungen). Da die beiden Vergleichspersonen jeweils in einer kontinuierlichen mütterlichen Abstammungslinie zu Stéphanie de Beauharnais stehen, ist es sehr wahrscheinlich, dass letztere dieselbe mtDNA-Sequenz hatte. Zwar kann es über mehrere Generationen durch Mutationen zu der einen oder anderen Abweichung kommen, jedoch keinesfalls in einem Umfang, dass sie die sieben Unterschiede zwischen den mtDNA-Sequenzen des Blutes von der Unterhose und der Nachkommen von Stéphanie de Beauharnais erklären könnten. Die ForscherInnen kamen daher zu dem Schluss, dass der Urheber der Blutspur kein Sohn von Stéphanie de Beauharnais und folglich Kaspar Hauser kein badischer Prinz gewesen sein konnte.

Gegen Teil zwei dieser Schlussfolgerung wurde allerdings eingewandt, dass es keinen Beweis für die Authentizität von Unterhose und Blutfleck gab und eine Verwandtschaft mit Stéphanie de Beauharnais demgemäß nur für den Urheber des Blutflecks, aber nicht zwingend für Kaspar Hauser ausgeschlossen werden konnte. Gerüchten zufolge sollte der Blutfleck aus optischen Gründen durch Museumspersonal hin und wieder mit frischem Blut „aufgebessert“ worden sein, und auch über einen Austausch der kompletten Unterhose wurde spekuliert. Demgemäß wurde in Frage gestellt, ob die im Blut von der Unterhose gefundene mtDNA-Sequenz tatsächlich die von Kaspar Hauser war.

Vor dem Hintergrund solcher Erwägungen wurden 2001/02 – initiiert von der Hamburger Kaspar-Hauser-Forscherin Ulrike Leonhardt und mit Unterstützung des ZDF – am Institut für Rechtsmedizin der Universität Münster unter der Leitung von Bernd Brinkmann weitere DNA-Analysen durchgeführt. Um die Datenbasis zu verbreitern, wurden Haare aus drei verschiedenen Locken, Abriebe von Blutflecken auf der Oberhose und Abriebe von der Krempe eines Hutes im Kaspar-Hauser-Museum einbezogen. Anzumerken ist, dass dieses Mal keine Probenentnahme durch Abtrennen von blutgetränktem Stoff gestattet wurde, sondern lediglich ein vorsichtiges Abschaben von Blutantragungen, was mit einer erheblich geringeren DNA-Ausbeute verbunden ist. Außerdem enthalten Haare ohne Wurzel wie im vorliegenden Fall nur geringe Mengen DNA.

Die in den fünf Proben gefundenen mtDNA-Sequenzen stimmten untereinander weitgehend überein mit Abweichungen an Position 16316 in den Abrieben von der Oberhose und von der Hutkrempe im Vergleich zu den Haarproben und unterschieden sich deutlich von der Sequenz, die 1996 aus dem Blut auf der Unterhose gewonnen worden war. Damit schien der Verdacht, dass die 1996 untersuchte Blutprobe nicht von Kaspar Hauser stammte, bestätigt.

Und mehr noch: Die 2001/2002 gefundene Sequenz stimmte fast vollständig mit derjenigen überein, die bei den lebenden Nachkommen von Stéphanie de Beauharnais gefunden worden war, allerdings mit einer Abweichung an Position 16220 (A vs. C). Damit war die Prinzentheorie plötzlich wieder im Rennen, denn eine Abweichung an lediglich einer Position erschien grundsätzlich durch eine Mutation erklärbar.

Einschränkend ist allerdings anzumerken, dass der DNA-Bereich, für den 2001/02 in den Proben von Kaspar Hauser eine Sequenz gefunden wurde, nur etwa halb so groß war wie ursprünglich intendiert, und dass die auf dieser kurzen Strecke gefundene Sequenz einem im west-eurasischen Raum sehr häufig vorkommenden Typ entspricht (bei ca. 15 Prozent der Bevölkerung), was die Aussagekraft deutlich einschränkt. Brinkmann fasste den Stand der Dinge in der 2002 erstmals ausgestrahlten Fernsehdokumentation „Mordfall Kaspar Hauser“ (Caligari Film GmbH im Auftrag des ZDF) so zusammen: „Zum jetzigen Zeitpunkt wäre es unverantwortlich, einen Ausschluss zu formulieren, so dass immer noch die Möglichkeit besteht, dass Kaspar Hauser ein biologischer Verwandter zum Hause Baden ist.“

Anders als die Untersuchung von 1996 (Weichhold et al.) war die von 2001/02 vor Erscheinen der aktuellen Publikation (Parson et al.) nicht in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift publiziert worden. Die Forensiker in Münster betrachteten die Untersuchung angesichts der Diskrepanz zu den Daten von 1996 auf der einen Seite und der ungeklärten Abweichung der neu gefundenen Sequenz zu der erschlossenen Sequenz von Stéphanie de Beauharnais auf der anderen Seite als nicht abgeschlossen. Für Klärung und Abschluss wären weitere Proben von Kaspar Hauser erforderlich gewesen, die jedoch ausblieben. Weder bei DER SPIEGEL noch beim ZDF noch im Kaspar-Hauser-Museum schien Interesse an weiterer diesbezüglicher Forschung zu bestehen. Und jeder, der nach 2002 über Kaspar Hauser schrieb, konnte von den beiden 1996 und 2001/02 durchgeführten Untersuchungen diejenige für maßgeblich erklären, die ihm besser ins Konzept passte — aus historisch-wissenschaftlicher Sicht natürlich eine höchst unbefriedigende Situation.

Da in der Zwischenzeit die Analysemethoden besser und sensitiver geworden waren, bemühte sich Bernd Brinkmann ab 2014 in Zusammenarbeit mit einem wissenschaftlich orientierten Kaspar-Hauser-Forscher, weitere Proben aus dem Kaspar-Hauser-Museum zu bekommen. Nach mehrjährigen Verhandlungen wurde dies jedoch vom Historischen Verein für Mittelfranken, der die Verfügungsrechte für die Kaspar Hauser zugeordneten Objekte im Museum innehat, abschlägig beschieden. Selbst das gewebeschonende Abschaben von Blutresten wurde nun verweigert. Somit blieben für weitere Untersuchungen nur drei Locken von Kaspar Hauser aus Privatbesitz – zwei, die bereits 2001/02 untersucht worden waren, und eine dritte, die der Forschung vormals unbekannt war (die jedoch eine sehr gut dokumentierte Überlieferungsgeschichte hat).

Innsbrucker Untersuchung

Die Untersuchung dieser Haare wurde schließlich im Jahr 2019 unter der Leitung von Walther Parson im Institut für Gerichtliche Medizin der Medizinischen Universität Innsbruck vorgenommen. Hier war zwei Jahre zuvor eine neue Methode etabliert worden, die als Primer Extension Capture Massively Parallel Sequencing (PEC MPS) bezeichnet wird und mit der auch minimale DNA-Spuren aus alten, stark degradierten Proben erfolgreich sequenziert werden können. Außerdem können in alten Proben mittels PEC MPS Kontaminationen durch jüngere DNA anhand der Fragmentlänge erkannt werden, was mit früheren (PCR-basierten) Methoden nicht möglich war.

Die mtDNA-Sequenzen, die mittels PEC MPS in den drei Haarproben gefunden wurden, stimmen erstens untereinander überein und zweitens - durchaus zur Überraschung einiger Beteiligter - mit der mtDNA-Sequenz, die 1996 in München und Birmingham aus dem Blut von der Unterhose gewonnen worden war (Mitotyp W). Gegenüber der mtDNA-Sequenz, die 2001/02 in Münster in den Proben von Kaspar Hauser gefunden worden war, sowie gegenüber der mtDNA-Sequenz, die mittlerweile viermal bei lebenden Verwandten von Stéphanie de Beauharnais nachgewiesen wurde (Mitotyp H1bs), liegen unüberbrückbare Abweichungen vor.

Die offensichtliche Diskrepanz zwischen den Ergebnissen aus den Untersuchungen von 2019 und 2001/02, in denen ja teilweise Haare aus denselben "Original-Locken" verwendet wurden, verlangt natürlich nach einer Erklärung. Diese liegt vor allem in der starken Fragmentierung der knapp zwei Jahrhunderte alten mtDNA. Tatsächlich liegt die durchschnittliche Fragmentlänge der alten mtDNA, die 2019 mit PEC MPS beobachtet wurde, unterhalb der „Zielgröße“ der 2001/02 verwendeten Methode (PCR-basierte Sanger Sequenzierung). Dadurch entging 2001/02 die nur spärlich vorhandene alte mtDNA von Kaspar Hauser dem Nachweis, und es kam jüngere weniger fragmentierte Fremd-mtDNA zum Vorschein, die im untersuchten Umfang zwar derjenigen von Stéphanie de Beauharnais ähnelte, mit dem heutigen Wissen über die mtDNA aber eindeutig als Ausschluss einer Verwandtschaft zu bewerten ist.

Es ist nun jedoch ohnehin Konsens aller beteiligten Forscher, dass die Sequenz, die 2001/02 gefunden wurde, nicht diejenige von Kaspar Hauser war. Und der Grund dafür, dass die Genetiker in München und Birmingham schon im Jahr 1996 erfolgreicher waren, liegt vor allem darin, dass sie Untersuchungsmaterial mit einem deutlich höheren mtDNA-Gehalt hatten (blutgetränkte Stoffstücke), für die die damals verwendeten weniger sensitiven Methoden ausreichend waren.

Letzte Analyse in Potsdam bestätigt Innsbruck Erkenntnis

Die vierte und bisher letzte DNA-Analyse wurde 2021/22 im Institut für Biochemie und Biologie der Universität Potsdam unter der Leitung von Michael Hofreiter und unter Mitwirkung der kanadisch-britischen Genetikerin Turi King von den Universitäten Leicester und Bath, durchgeführt. Untersucht wurde ein Haar aus einer Locke, die sowohl 2001/02 in Münster als auch 2019 in Innsbruck bereits Teil des Untersuchungsprogramms war. Mit Whole Genome Sequencing von einzelsträngigen mtDNA Bibliotheken wurde eine Methode angewandt, die ähnlich empfindlich ist, wie die in Innsbruck eingesetzte PEC MPS. Das Ergebnis bestätigte zu 100 Prozent die mtDNA-Sequenz von 1996 und 2019 (Mitotyp W).

Durch die Einbeziehung unterschiedlicher Proben, die unabhängig voneinander und in verschiedenen Laboren untersucht wurden und übereinstimmende Ergebnisse erbrachten, konnte nun erstmals — und im Unterschied zu 1996 — die Authentizität der untersuchten Proben und ihre Zugehörigkeit zu Kaspar Hauser nachgewiesen werden. Das Sicherheitslevel für diesen Nachweis wird bei konservativer Berechnung mit 99,9994 Prozent angegeben, und die gefundene Sequenz schließt eine mütterliche Verwandtschaft mit Stéphanie de Beauharnais aus, womit die klassische Prinzentheorie widerlegt ist. Die Autoren der Publikation betonen allerdings, dass dieses Ergebnis nicht als ein Beleg für die konkurrierende Betrügertheorie missverstanden werden sollte, denn auch wenn Kaspar Hauser kein badischer Prinz war, könnte er dennoch ein Opfer verschiedener Verbrechen gewesen sein.

Die Autoren stellen weiterhin fest, dass es nicht möglich ist, aus der mtDNA-Sequenz von Kaspar Hauser spezifische Informationen über seine geographische Herkunft abzuleiten (abgesehen davon, dass es sich um eine mtDNA-Sequenz west-eurasischer Provenienz handelt). Die Behauptung, die der Karlsruher Neurologe Dr. Günter Hesse in seinem Buch von 2018 aufstellt, er habe durch den Vergleich der mtDNA von Kaspar Hauser mit der mtDNA von ein oder zwei zufällig ausgewählten Tirolerinnen (mit 8 oder 9 Abweichungen) eine Herkunft aus Tirol nachgewiesen, beruht nicht auf anerkannten wissenschaftlichen Fakten und Konzepten. Der Mitotyp W, der in den Proben von Kaspar Hauser zwischen 1996 und 2022 gefunden wurde, ist zwar relativ selten (ca. 0,2 Prozent der Bevölkerung), wird aber dennoch von vielen Menschen in ganz Europa geteilt. Es ist daher nicht möglich, Kaspar Hausers Herkunft allein auf Grundlage seiner mtDNA-Sequenz auf eine bestimmte Region wie etwa Tirol einzugrenzen.

Tatsächlich sind Identität und Herkunft Kaspar Hausers nach wie vor unklar, denn es konnte durch die Analyse der mitochondrialen DNA ja lediglich die populärste Theorie ausgeschlossen werden. Um seiner tatsächlichen Identität näherzukommen, wären Analysen der Kern-DNA sehr wünschenswert, was jedoch nicht anhand von Haarproben (Ausbeute zu gering), sondern nur mit Proben von Blut oder Knochen möglich ist.

(Innsbruck, 6. August 2024, Text: red/GMI, Foto: D. Bullock)

Forschungsarbeiten:
Parson, W., Amory, C., King, T., Preick, M., Berger, C., König, A., Huber, G., Anslinger, K., Bayer, B., Weichhold, G., Sänger, T., Lutz-Bonengel, S., Pfeiffer, H., Hofreiter, M., Pfründer, D., Hohoff, C., Brinkmann, B. Kaspar Hauser’s alleged noble origin – New molecular genetic analyses resolve the controversy, iScience (2024), doi: https://doi.org/10.1016/j.isci.2024.110539

Weichhold, G., Bark, J., Korte, W., Eisenmenger, W., Sullivan, K. M. DNA analysis in the case of Kaspar Hauser. Int J Leg Med 111, 287–291 (1998). https://doi.org/10.1007/s004140050173

Weitere Links:
Institut für Gerichtliche Medizin Innsbruck

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