Dreißig Jahre altes Rätsel der Muskelphysiologie gelöst
Zur Aktivierung von Skelettmuskeln triggert innerhalb weniger tausendstel Sekunden ein elektrisches Signal den massiven Anstieg der Kalziumkonzentration in der Muskelfaser. Das dafür verantwortliche Membranprotein CaV1.1 besitzt allerdings vier voll funktionstüchtige Spannungssensoren, die gemeinsam die Öffnung der Kanalpore kontrollieren. Innsbrucker Physiologen um Bernhard Flucher klärten nun die Frage, wie viele und welche dieser Spannungssensoren für die Steuerung der Muskelkontraktion verantwortlich sind.
Stellen sie sich vor, sie wären ein Detektiv, der zu klären versucht, wer für eine anhaltende Serie von Überfällen auf Geldtransporte verantwortlich ist. Von ihren vier Verdächtigen ist einer allerdings zu langsam und ein anderer zu einfallslos, um die Tat zu vollbringen. Bleiben also noch zwei. Oder aber, einige oder alle von ihnen arbeiten im Team an den Überfällen zusammen. So in etwa stellte sich die Ausgangsituation für die unlängst in Nature Communications publizierte Untersuchung der Innsbrucker Muskelphysiologen dar.
CaV1.1, ein spannungsaktivierter Kalziumkanal, war seit langem bekannt als „der Spannungssensor“ für die Erregungs-Kontraktions-Kopplung im Skelettmuskel. Wenn ein Aktionspotential die Muskelmembran für eine Millisekunde depolarisiert, nimmt dieses Membranprotein die Spannungsänderung wahr, verändert daraufhin seine Konformation und öffnet dadurch einen benachbarten Kanal, der aus intrazellulären Speichern jenes Kalzium freisetzt, welches als Signal für die Muskelkontraktion fungiert. Nun besitzen spannungsaktivierte Kalziumkanäle nicht nur einen, sondern vier voll funktionstüchtige Spannungssensoren, die üblicherweise gemeinsam die Öffnung der eigenen Kanalpore vollbringen. Im Skelettmuskel ist diese Kanalfunktion allerdings bedeutungslos, da sie viel zu unempfindlich und zu langsam für die Steuerung der Muskelkontraktion ist. In früheren Untersuchungen fand das Innsbrucker Forscherteam heraus, dass dies ursächlich mit den Eigenschaften zweier der vier Spannungssensoren zusammenhängt. Einer ist zu langsam und ein weiterer zu unempfindlich, um für die schnelle Aktivierung der Muskelkontraktion verantwortlich zu sein. Ist es also möglich, dass Muskelkontraktion lediglich von einem oder zwei der CaV1.1 Spannungssensoren gesteuert wird?
Diese Frage zu beantworten, war primär die Aufgabe von Simone Pelizzari, eines PhD Studenten des CaVX PhD Programms, im Team von Bernhard Flucher am Institut für Physiologie der Medizinischen Universität Innsbruck. Die Strategie für diese Detektivarbeit war, die individuellen Spannungssensoren von CaV1.1 genetisch so zu verändern, dass deren Empfindlichkeit verändert wird. Ist ein Spannungssensor an der Steuerung der Muskelkontraktion beteiligt, sollten sich dadurch auch die Kontraktionseigenschaften verändern. Um beim eingangs verwendeten Bild zu bleiben, wenn der Detektiv es schafft den Bewegungsspielraum einzelner Verdächtiger zu beeinflussen, kann er beobachten, ob sich dies auf die Überfallsserie auswirkt oder nicht. Wenn ja, erhärtet sich der Verdacht, wenn nein, kann er die Beteiligung eines Verdächtigen ausschließen. Experimentell war die größte Herausforderung dabei, genetische Veränderungen zu finden, welche die Funktion einzelner Spannungssensoren spezifisch verändern, aber dabei die allgemeine Struktur und Funktion des Kanals zu bewahren. Als dies gelungen war, war es lediglich eine Frage beharrlicher experimenteller Arbeit, bis alle vier Spannungssensoren systematisch durchgetestet waren.
Um die genetisch veränderten Kalziumkanäle zu testen, müssen diese in kultivierte Muskelzellen eingebracht werden, an denen dann der Kalziumeinstrom über die Membran und die zellulären Kalziumsignale nach elektrischer Stimulation gemessen wurden. Wie erwartet zeigten die Ergebnisse der Experimente, dass Spannungssensoren I und IV (der langsame und unempfindliche) nicht an der Steuerung der Kontraktion beteiligt waren. Auch einer der verbleibenden Verdächtigen, Spannungssensor II, hatte keinen Einfluss auf die Kontraktion. Einzig Spannungssensor III kontrolliert die Muskelkontraktion und seine biophysikalischen Eigenschaften bestimmen die Spannungs-Empfindlichkeit und Geschwindigkeit der Erregungs-Kontraktions-Kopplung.
Untersuchungen der Proteinstruktur durch Monica Fernandez-Quintero am Institut für Theoretische Chemie der Leopold-Franzens Universität Innsbruck zeigten zudem, dass dieser Spannungssensor nicht nur der schnellste der vier ist, sondern auf die Spannungsänderung hin unerwartete strukturelle Veränderungen vollführt. Genau diese könnten der maßgebliche Trigger für jene Signalkaskade sein, die letztlich zur Freisetzung von Kalzium und somit zur Kontraktion führen. Somit kamen die Innsbrucker Physiologen mit dieser Untersuchung der Lösung des großen Rätsels der Muskelphysiologie — dem Mechanismus der Erregungs-Kontraktions-Kopplung im Skelettmuskel — einen wesentlichen Schritt näher. „Es ist erstaunlich, dass eine so wesentliche Körperfunktion, wie der Mechanismus zur Steuerung der Muskelkontraktion immer noch nicht vollständig gelöst ist“, bemerkt Flucher und fügt hinzu: „Seit der Beschreibung von CaV1.1 als Spannungssensor in der Skelettmuskelkontraktion, mussten 30 Jahre intensiver Forschung vergehen, bis das Rätsel gelöst werden konnte, wie dieses Protein die Öffnung der Kanalpore und die Erregungs-Kontraktions-Kopplung mit unterschiedlicher Sensitivität und Geschwindigkeit aktiviert. Unsere neuen Erkenntnisse sollten dazu beitragen, dass die Entschlüsselung der verbleibenden Schritte nicht nochmals 30 Jahre dauert.“
(12.9.2024, Text: red/B. Flucher, Bilder: FlucherLab)
Links:
CaV1.1 voltage-sensing domain III exclusively controls skeletal muscle excitation-contraction coupling. Pelizzari et al., Nature Communication (2024) 15:7440; https://doi.org/10.1038/s41467-024-51809-5
Flucher Lab: https://www.i-med.ac.at/dpmp/physiologie/research/flucher/
CaVX PhD Programm (FWF Docfunds): https://cavx.at/students/