Preise für Gender Medizin Forschung vergeben
Was schützt Frauen vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen und wo liegen ihre Risiken? Diesen Fragen geht Lena Tschiderer auf den Grund. Wie es österreichischen Medizinstudentinnen in Innsbruck geht, hat Lisa Kelm während ihrer Diplomarbeit beschäftigt. Beide Frauen sind für ihre Forschungen unlängst mit dem Gender Medizin Preis der Medizinischen Universität Innsbruck ausgezeichnet worden.
Von einer epidemiologischen Studie zu den gesundheitlichen Vorteilen des Stillens für Mütter bis zur Situation von Medizinstudentinnen in Uni- und Klinikalltag in Innsbruck. Das Forschungsfeld auf dem Gebiet der Gendermedizin ist weit. Um die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit geschlechtsspezifischen Fragen zu fördern und die Forschungsleistungen ihrer WissenschafterInnen in diesem Bereich zu honorieren, lobt die Medizinischen Universität Innsbruck jährlich den Preis für „Gender Medizin Forschung“ aus. Für das Jahr 2022 durfte Lena Tschiderer vom Institut Gesundheitsökonomie die Auszeichnung bei einer Preisverleihung im Dezember 2023 entgegennehmen. Lisa Kelm erhielt für ihre Diplomarbeit, die sie an der Gemeinsamen Einheit für Gender Medizin & Diversität verfasste, den Anerkennungspreis.
Im Rahmen der Ringvorlesung Gendermedizin hält Lena Tschiderer im März einen Vortrag zu ihrem Schwerpunktthema: „Geschlechtersensible Kardiovaskuläre Epidemiologie – Einfluss von frauenspezifischen Faktoren“ (Donnerstag 14.3. 2024, 18:30 bis 20:00 Uhr, Hörsaal Anatomie, Müllerstr. 59, 6020 Innsbruck, Eintritt frei)
Preis für Gendermedizinforschung an Lena Tschiderer
Babys profitieren von Muttermilch, das ist bekannt. Dass auch Frauen, die ihre Kinder stillen, besser vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen geschützt sind, als Mütter, die darauf verzichten oder es nicht vermögen, hatte sich bisher noch nicht so weit herumgesprochen. Zwar haben viele einzelne Arbeiten einen Zusammenhang zwischen Stillen und Herz-Kreislauf-Erkrankungsrisiko bereits aufgezeigt, konkrete Schlüsse konnten daraus bisher aber nicht gezogen werden, wie Lena Tschiderer sagt. Im Jahr 2020 beschloss ihr Team um Direktor Peter Willeit vom Institut für Gesundheitsökonomie daher, mit „statistischer Power“ dem Thema Nachdruck zu verleihen. Nach umfangreichem Literaturstudium – rund 800 Studien – führten die ForscherInnen eine Meta-Analyse durch: Acht große internationale Studien mit Daten von 1,2 Millionen Frauen – Mütter, die stillten im Vergleich zu Müttern, die nicht stillten – haben Tschiderer und ihre KollegInnen dafür herangezogen und eindeutige Ergebnisse erhalten.
Die Gefahr, einen Schlaganfall zu erleiden, ist für stillende Mütter demnach um zwölf Prozent kleiner als für nicht-stillende Mütter, das Risiko für eine koronare Herzerkrankung um 14 Prozent und das allgemeine Herz-Kreislauf-Erkrankungsrisiko um elf Prozent niedriger. Die Gefahr an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung zu versterben verringert sich für stillende Mütter sogar um 17 Prozent. 2022 veröffentlichte das Journal of the American Heart Association die Studie, für die Lena Tschiderer als Erstautorin zeichnet, mit großem internationalem Medienecho. „Wir haben für diese Arbeit besonders viel Feedback bekommen, viele Journalistinnen und Journalisten haben uns kontaktiert, sogar aus den USA“, freut sich Tschiderer. Die Studienergebnisse könnten Frauen, welche die Wahl haben zu stillen, noch mehr dazu motivieren, sich dafür zu entscheiden, findet sie.
Im Dezember 2023 durfte sie für die Publikation nun auch den Preis für Gender Medizin Forschung an der Medizinischen Universität Innsbruck entgegennehmen. Die Erforschung von Geschlechtsunterschieden in der Medizin mit Methoden der Statistik ist der Mathematikerin ein besonderes Anliegen. „Unterschiede zwischen Männern und Frauen sind in der Medizin zwar bekannt, werden aber noch vernachlässigt. Es sollte möglich sein, für jede Person die bestmögliche Behandlung von Risikofaktoren und Therapien anbieten zu können. Der Gendermedizin-Preis ist für mich eine Anerkennung – insgesamt sollten Genderthemen in der Wissenschaft noch mehr anerkannt und in jeder Forschung berücksichtigt werden“, sagt sie. Neben weiteren Projekten zu Geschlechtsunterschieden bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen untersucht Tschiderer gerade frauenspezifische Themen. Dazu analysierte sie etwa Daten zu Menopause und Schlaganfall sowie zu Präeklampsie und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Eine Forschungsarbeit, in der sie sich mit dem Alter bei der Menarche (Einsetzen der 1. Monatsblutung) und möglichen Zusammenhängen mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen beschäftigte, will sie demnächst zur Veröffentlichung bei einem Fachjournal einreichen.
Die Mathematikerin Lena Tschiderer ist als Assistenzprofessorin am Institut für Gesundheitsökonomie tätig. Für ihre bisherigen Forschungsleistungen wurde sie mit dem Dr.-Otto-Seibert-Preis und dem Hauptpreis der Austrian Atherosclerosis Society 2021 ausgezeichnet.
Anerkennungspreis Gendermedizin für Lisa Kelm
Lisa Kelm hat sich in der Diplomarbeit zum Abschluss ihres Studiums der Humanmedizin damit beschäftigt, wie es österreichischen Medizinstudentinnen in Innsbruck geht und wie sie ihr Umfeld in dieser Zeit erleben. Der Hintergrund ist ernst: „Im internationalen Vergleich aller Studiengänge geht es Medizinstudierenden – weiblich und männlich – am schlechtesten, nicht nur physisch, sondern auch psychisch. Das zeigt sich weltweit unter anderem in einer hohen Abbruchrate und einer hohen Suizidrate unter Studierenden und auch noch unter ÄrztInnen. Das Problem ist also bekannt. Für Österreich gibt es allerdings nicht sehr viele Zahlen, aber vor allem qualitative Daten fehlen“, erklärt Kelm die Ausgangslage ihrer Untersuchung mit dem Titel „Du weißt oft nicht, ob du lachen oder weinen sollst“ – Erleben unangemessener Behandlung von Medizinstudierenden. Dafür arbeitete sie mit ihrer Kollegin Magdalena Mayr zusammen, die in ihrer Diplomarbeit die Situation der deutschstämmigen Medizinstudentinnen in Innsbruck genauer analysierte. Die Ergebnisse der Untersuchung – ein teilstrukturierter Fragebogen und ein zweistündiges Gespräch in der Fokusgruppe mit acht TeilnehmerInnen, das von Kelm als Moderatorin und Magdalena Mayr als Beobachterin begleitet wurde – sind nicht erfreulich, wie auch in den meisten ähnlichen Studien international. Unangemessene Behandlung – von Vorurteilen gegenüber Frauen im Beruf und Beleidigungen, über Berührungen, die als unangenehm empfunden wurden bis zum Entreißen von Instrumenten im OP - hätten die Berichte der interviewten Studienteilnehmerinnen gereicht. Nicht jede sei selbst Opfer geworden, aber jede war zumindest Zeugin unangemessenen Verhaltens durch Pflegepersonen, PatientInnen, Lehrende oder ÄrztInnen.
Überraschend war das für Kelm nicht: „Das war erwartbar aufgrund der Literatur. Überrascht hat mich aber, wie sehr das alles von den Studentinnen normalisiert und heruntergespielt wird.“ Die Frauen würden sich trotz ihres Leids eher selbst dazu ermahnen, sich „nicht so anzustellen“ und „nicht so sensibel“ zu sein, berichtet Kelm. Sie hatte auch nicht damit gerechnet, dass sich die Problematik durch alle Bereiche des Medizinstudiums – den Berichten zufolge in den chirurgischen Fächern stärker, in den vorklinischen Bereichen etwas weniger – durchzieht, unabhängig davon, ob es sich um männer- oder frauengeführte Institute oder Kliniken handelt. „Dort wo Frauen in Führungspositionen sind, ist es nicht zwangsweise besser. Diese leitenden Frauen sind in einer sehr männlich geprägten Medizin aufgewachsen und reproduzieren männliches Verhalten. Wir haben ein strukturelles Problem, das sich seit den 1980er Jahren nicht verbessert hat. Wenn jemand dagegenhält, dann sind das eher motivierte Einzelpersonen, die am Anfang ihrer Karriere stehen und noch nicht vom System einverleibt wurden“, sagt Kelm.
Mit dem AKGL – Arbeitskreis für Gleichbehandlungsfragen – hat die Medizinische Universität Innsbruck bereits vor Jahren eine Einrichtung geschaffen, bei der sich Betroffene beschweren können. „Eine solche Stelle sollte sich an jeder Klinik befinden“, nimmt Kelm Lösungen in den Blick. Allerdings gebe es unter den Studentinnen auch große Skrupel, diese Möglichkeit in Anspruch zu nehmen. „Sie haben Angst, sich ihre Zukunft zu verbauen, zumal die Beschwerden oftmals im Sande verlaufen.“ Um Bewusstsein zu schaffen, Unterstützungsangebote für Betroffene und Bystander aufzuzeigen, wäre es für Kelm wünschenswert, wenn das Fach zum Thema Resilienz nicht nur ein Wahlfach bleiben, sondern zentral in der Pflichtlehre verankert werden würde.
Lisa Kelm ist seit ihrem Abschluss im März 2023 in der Abteilung Frauen und Gendergesundheit im Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz in Wien tätig. Sie wird demnächst ihr Basisjahr antreten und strebt die Ausbildung zur Allgemeinmedizinerin an. Während ihrer Diplomarbeit in der Gemeinsamen Einheit für Gender Medizin & Diversität wurde sie von Heidi Siller angeleitet.
(Innsbruck, 8. März 2024, Text: T. Mair, Foto: MUI/D. Bullock)
Weitere Links:
Preis für Gender Medizin Forschung
Institut für Gesundheitsökonomie
Institut für Diversität in der Medizin
Arbeitskreis für Gleichbehandlungsfragen (AKGL)
Programm Ringvorlesung Gendermedizin Sommersemester 2024